Geschichte gefunden - Ein Beratungsgespräch
oder: wie die Maerchenakademie-Wien erfuhr, dass sie eine Institution ist
Eines Tages sitze ich am PC und schreibe konzentriert einen Text.
Das Telefon läutet. Einen Moment lang überlege ich, den Anrufbeantworter
„drangehen“ zu lassen, greife dann aber doch zum Hörer und melde mich.
Eine Männerstimme spricht auf mich ein, bedächtig und ausführlich. Ich tauche
langsam aus meinem Arbeitsthema auf, höre halbem Ohr zu und vernehme zugleich im
Hinterkopf Stimmen; „Da kommt mir was bekannt vor. Was ist das nur?“ ,
„Was will der Mann eigentlich? Könnte er das zuerst sagen?
Hoffentlich will er mir nicht etwas verkaufen!“ Also, er wohnt im Waldviertel – ja,
kenne ich, ganz schön abgelegene Gegend, verstohlene mystische Winkel,
für mich, die ich seit dreißig Jahren in der Großstadt Wien lebe,
zauberhaft, aber nicht „am Puls des Geschehens“ …
Endlich fragt er und lässt mir danach Zeit zum Antworten:
„Kennen sie eine Geschichte, in der ein Haus ohne Fenster und Türen gebaut wird?“
„Was ist das?“ frage ich mich, „ein Gewinnspiel?“
„Dazu fällt mir", antworte ich unwillkürllich, "die Schildbürgergeschichte ein, in der sie ein Rathaus
gebaut haben. Sie sind sehr stolz darauf, finden es aber störend, dass es darin so finster ist. Also; eine Tür müssen sie gehabt haben, denn sie konnten das Haus betreten. Sie versuchen, mit Kübeln das Sonnenlicht hineinzutragen. Sie wundern sich, warum das nicht gelingt, da die Kübel draußen im Freien doch offensichtlich voll mit Licht waren. Sie decken das Dach ab und jubeln: Auf einmal ist es hell. Aber leider ziehen Wolken vor die Sonne und bald darauf regnet es ins Rathaus hinein. Sie decken das Dach wieder,
aber nun ists leider finster. Endlich kommt jemand, der ihnen erklärt, dass sie Fenster brauchen.“
Mein Gesprächspartner ist offensichtlich zufrieden. Das scheint die gesuchte Geschichte zu sein.
„Und wo könnte ich die nachlesen?“ fragt er.
„Ich finde die Nacherzählungen der Schildbürgergeschichten von Erich Kästner besonders gut.“
„Ah. Wo finde ich die?“
Ich stehe auf, gehe zu meinem, aus den Nähten quellenden, Märchenregal hinüber, finde den dicken
Kästnerband, in dem Schildbürger - Münchhausen - und Don Quichotte - Nacherzählung zusammen
sind, schlage ihn einhändig auf, halte inzwischen den Kopfhörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt,
bleibe im Gespräch und blättere zugleich. „Ja, die Geschichte ist hier drin. Ich war mir nicht ganz sicher.
Aber jetzt sehe ich es. Hier ist sie.“ Ich gebe nochmal Autorenname und Titel durch. Der Herr am anderen Ende der Leitung bedankt sich herzlich. „Ich wünsche Ihnen nochmal so viele Jahre, wie sie schon erlebt haben und Glück.“ Ich lächle. Von guten Wünschen halte ich viel. Gewonnen beim Spiel. „Ja“, sage ich, „das wünsche ich ihnen auch.“ „Wissen sie“, sagt er, „ich bin schon achtundachtzig. Nochmal so viele Jahre wird es wohl nicht für mich geben.“ Da funkt es bei mir. „Ach so, das war es, die selbstbewusste, bedächtige, ausgeprägte Sprechweise! Da ist ein ganz alter Herr vom Land am anderen Ende der Leitung. Gebildet, helle, wissbegierig unbefangen und hartnäckig im Aufarbeiten seiner inneren Schätze und Erinnerungen“, denke ich. In inneren Bildern in der Vorstellungskraft ist das in einem Moment gedacht. In geschriebenen Worten braucht es viel mehr Zeit.
„Wie sind sie auf mich gekommen?“, frage ich ihn.
„Die Stadtinformation hat mir ihre Nummer gegeben", antwortet er.
Wir verabschieden uns noch freundlich, aber ich bin wie benommen,
„schmähstad“, wie man in Wien so sagt.
Was für eine Begegnung!
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